Forschung

Forschungsgegenstände, Forschungsansätze und -konzepte

In der Vergangenheit wurden von den Proponenten des Instituts für Sozialästhetik und Mental Health verschiedene Konzepte bearbeitet bzw. entwickelt und auch im Rahmen von nationalen und internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen, wie z.B. der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in Berlin (November 2014), dem World Psychiatric International Congress in Madrid (September 2014), dem Advanced Studies Seminar Aesthetics and Mental Health am St. Catherine’s College der University of Oxford (Juni 2014), der Jahrestagung der European Society of Aesthetics and Medicine in Berlin (April 2014), der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie in Gmunden (April 2014), der 12. International Conference for Philosophy & Psychiatry in Lissabon (Oktober 2009) und der 23rd European Conference on Philosophy of Medicine and Health Care in Tübingen (August 2009) – um nur ein paar wenige wissenschaftliche Tagungen herauszugreifen – der Fachwelt vorgestellt. Diese Konzepte sind auch Ausgangspunkte für zukünftige Hauptforschungsschwerpunkte des Instituts, wie z.B. das Konzept der Atmosphären und der Aura, das Konzept des Ortes (Place/Topos), das Konzept des Zuhauses (Dwelling), das Konzept des Familiären (Vertrauten), das Konzept der Gastfreundschaft, das Konzept der Achtsamkeit und Präsenz, das Konzept der Reziprozität, das Konzept der Teilnahme (Engagement), das Konzept der Attraktivität, etc. Darüber hinaus wird sich das Institut für Social Aesthetics and Mental Health mit dem noch jungen Forschungsfeld „Psychotherapie und Film“ (cinematherapeutische Interventionen in der Psychotherapie, der Psychotherapeut im Spielfilm, psychopathologische Störungsbilder im Film), mit ressourcenorientierten Behandlungsverfahren (Ästhetische Ressourcen) und dem Diskurs der Erzählbarkeit des Lebens (Narrative Identität und Identitätsstiftung durch Narrationen) beschäftigen.

Forschungsmethodik

Mit der Ausweitung humanwissenschaftlicher Zugänge zum kranken Menschen mit seinen Leiden sind neue Forschungsmethoden und wissenschaftliche Weisen der Gegenstandserschließung notwendig geworden. Eine dieser neuen Denkarten wurde vom Philosophen Wolfgang Welsch in seinem gleichnamigen im Jahre 2003 erschienenen Werk als ästhetisches Denken benannt. Diese Denkart steht in deutlichem Gegensatz zum „rechnerischen Denken“, also jener Denkform, die heute noch immer die medizinischen Diskurse bestimmt. Die Bezeichnung „rechnerisches Denken“ geht auf Martin Heidegger zurück und wurde der Sache nach bereits von ihm kritisch auseinandergelegt. (vgl. Poltrum 2005) Heute versteht man aber über die Heidegger’sche Anschauung hinausreichend unter rechnerischem Denken einen im Wesentlichen kognitiven Weltzugang, der in einem ersten Schritt auf Beobachtung (also auf Sinneswahrnehmung bzw. technisch erweiterter Sinneswahrnehmung) von naturgegebenen Ereignissen und Umständen beruht.
Diese Beobachtungen werden dann in einem zweiten Schritt im Rahmen von „Messverfahren“ in Zahlen transformiert. Die so gewonnenen Zahlen sind Ausgangspunkt für die den dritten Schritt des rechnerischen Denkens ausmachenden „Berechnungen“, wobei diese „Berechnungen“ sich heute im Wesentlichen auf Wahrscheinlichkeitsanalysen beschränken. Im vierten Schritt werden dann die „Signifikanzen“ vom Untersucher interpretiert, wobei hier durchaus weit über die Zahlenergebnisse hinausreichende Spekulationen als wissenschaftliche Diskussion von „objektiven Berechnungen“ ausgegeben werden. Diese Spekulationen dienen dann wiederum als Ausgangspunkt zu neuen „Beobachtungs- bzw. Experimentenreihen.“
Im Gegensatz dazu wird im „ästhetischen Denken“ die Basis für die wissenschaftliche Interpretation nicht nur mittels sinnlicher Wahrnehmung gelegt. Schon Aristoteles hat bei der Beschreibung der Besonderheiten des Menschen als zoon logon echon aufgezeigt, dass der Mensch nicht nur durch seine Vernunft, sondern vor allem auch durch eine ihm besondere aisthesis ausgezeichnet ist. Diese menschliche aisthesis ist nicht auf bloß animalisch-emotionales Fühlen zu reduzieren, sie ist eine zutiefst menschlich-emotionale Zugangsform zur Welterkenntnis und Welterschließung. Als besondere Möglichkeit der Erlebnisfähigkeit ist sie auch ganz wesentliche Basis für ästhetisches Denken. In einem weiteren Schritt wird ästhetisches Denken geprägt von einer „generalisierten wahrnehmungshaften Sinnesvermutung (ästhetisch-imaginative Expansion)“, wie es Wolfgang Welsch im oben genannten Opus ausdrückte. Diese ist dann wiederum Ausgangspunkt und Grundstein für das reflexive Ausloten und Prüfen des Wahrgenommenen im dritten Schritt. Die Konsolidierung der auf diese Weise reflexiv erhärteten Wahrnehmung zu einer „phänomenologischen Gesamtsicht“ erfolgt dann im vierten Schritt, der nicht nur von Wahrheitsliebe, sondern vor allem auch von Redlichkeit geleitet ist.

Nietzsche wies uns in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ auf die zentrale Rolle der Redlichkeit und Wahrhaftigkeit in der Erforschung der uns gegebenen Welt hin. Er stellte dies dem hochmütigen und letztendlich doch lebensfremden Ansinnen des forschenden Menschen gegenüber, der in der Überzeugung verhaftet bleibt, dass es dem Menschen doch möglich wäre, die objektive Wahrheit der Natur erkennen zu können. Eine solche allgemeine, letztgültige Wahrheit bleibt uns als Menschen aber letztlich immer unzugänglich; auch eine Objektivität vortäuschende mathematische Artistik kann uns eine solche „Wahrheitsfindung“ nicht ermöglichen. An die Stelle eines dogmatisch eingeforderten, aber doch nie zu erreichenden „Wahrheitsgewinns“ braucht es in der Forschung eine sich in Redlichkeit und Wahrhaftigkeit manifestierende Wahrheitsliebe. Eine solche die heute so weit verbreitete Wahrscheinlichkeitsliebe ersetzende Wahrheitsliebe ermöglicht uns dann auch, neue Dimensionen des Weltverständnisses zu eröffnen.

Unter diesem Blickwinkel kann auf Wahrheitsliebe basierendes ästhetisches Denken auch unser medizinisches Verständnis nur bereichern. Überall dort, wo nicht nur Fragen nach dem Was (wie z.B.: Was habe ich therapeutisch zu tun?), sondern vor allem auch Fragen nach dem Wie (wie z.B.: Wie habe ich die Kontaktaufnahme zu gestalten?) zu stellen und zu beantworten sind, also überall dort wo wir das Forschungsfeld der medizinischen Sozialästhetik betreten, wird ästhetisches Denken zur unverzichtbaren Methodik. So sind etwa Fragen, wie solche nach der Schaffung von angstfreien und gesundheitsfördernden Atmosphären in Diagnose und Behandlungseinrichtungen oder Fragen zur Entwicklung von differenzierten Begegnungsformen mit dem Fremden in Gastfreundschaft, unter Verzicht auf ästhetisches Denken kauf zielführend zu beantworten.

Ästhetisches Denken ist aber trotz aller methodischer Gegensätzlichkeit zum rechnerischen Denken nicht als dessen Alternative anzusehen. Es handelt sich vielmehr dabei um eine komplementäre Denkform, die eine Erweiterung des medizinischen Verständnisses ermöglicht. In jedem Fall – ob man nun mittels rechnerischem Denken oder mittels ästhetischem Denken (oder mittels einer anderen etablierten Denkart) auf den Kranken und seine Problematik zugeht – braucht es in der Forschung Redlichkeit und Wahrhaftigkeit statt Objektivitätsideologie.